Sustrum. Warum? Darum!

Ein defekter Verschlussring für die Wasserstandssonde, ein Ersatzteil, das es nur beim Fendt Vertragshändler des Vertrauens in Papenburg gibt, „zwingt“ mich zum Aufbruch ins Emsland. Das lange Osterwochenende steht vor der Tür, ich habe seit heute „Osterferien“, die beste aller Ehefrauen hat es nicht so gut, sie muss „die Firma am Laufen halten“ und das Frollein ist immer noch durch ihre verletzte Pfote „bewegungsgehemmt“. Ganz allein mache ich mich auf den Weg.

Und wieder habe ich keinen Termin mit der Natur vereinbart …

Über Ostern wollen wir drei an den Elbe-Lübeck-Kanal. Durch meinen spontanen und uneigennützigen Aufbruch ins Emsland „rette“ ich quasi unser langes Wochenende in Schleswig-Holstein. Diese Entschlossenheit muss belohnt werden. Und da ich zufällig auch Big B. am Haken habe, kommt mir der Besuch im Emstal, da es ja nur „um die Ecke liegt“, sehr gelegen.

Einmal mehr: die Ems

B70. Zwischen Papenburg und Herbrum, kurz vor einer 70er-Zone, ich fahre noch 100 Km/h, überholt mich ein Düsseldorfer Tiefflieger. Augenscheinlich noch im Karnevalstaumel schneidet er mich, schert erbarmungs- und rücksichtslos ein und bremst, diese rheinische Frohnatur, meinen Rosenmontagszug aus. Gebremste, aber heute immerhin knappe 1,569 t Big B. helfen mir den Begriff der „Schiebung“ am praktischen Beispiel zu verstehen. – „Du alter A … schermittwoch!“, möchte ich rufen, unterlasse es aber, da mir in Gedanken noch weitaus bessere Titulierungen einfallen.

Frühmorgendlicher Blick nach Steinbild

Wenige Kilometer später steht der Bajazzo in der Linksabbiegerspur zum Dörpener Industriegebiet an der roten Ampel. Ich möchte anhalten, aussteigen und ihn „ans Herz drücken“, doch dann denke ich: „Das hat er nun wirklich nicht verdient!“

„In die Luft gegangen“

Es folgt der obligatorische Einkauf im Walchumer NP-Markt und der Bäckerei Ganseforth bevor ich im Emstal eintreffe. Schnell ist der Bianco in Stellung gebracht. Und jetzt? Warum ist das „Innenleben“ des Wohnwagens noch nicht hergerichtet? Wo ist die Lademeisterin? Muss Mann hier alles allein machen? – Ja, Mann muss!

„Das andere Ufer“ der Alten Ems

Das kostet natürlich Zeit. Mehr Zeit als ich, verwöhnt wie ich bin, glaube. So muss der fast ausnahmslos vegetarisch lebende „Burgenbauer“, der sich irgendwo im Emstal niedergelassen hat, noch ein wenig warten, bis ich ihn mit der Kamera in der Flusslandschaft besuche. Ich habe seine Biberburg zwar noch nicht gefunden, aber eindeutige Bissspuren an Bäumen, Zweigen und Trieben, haben mir seine Anwesenheit verraten. Ich werde ihn finden. Nur nicht mehr heute, denn es dämmert bereits, mir ist kalt, es regnet und außerdem ist morgen auch noch ein Tag.

Die ihr vor mir, schöne Schwäne, Auf der Wogen Flut euch wiegt, Silbern schimmert eu’r Gefieder, … – Graf Adolf Friedrich von Schack

Big B.´s Kühlschrank kann mit drei Energiearten betreiben werden: Netzspannung (220 V), Gleichspannung (12 V) und Gas. Stellt man den Energiewahlschalter vor Fahrtantritt aber versehentlich auf „Gas“, statt auf Gleichspannung (12 V), dann führt dies u.a. zu „Materialveränderungen“ im Gefrierfach. Da helfen dann auch strikt eingehaltene 12 Stunden „Vorkühlzeit“ vor der Einlagerung der Lebensmittel nicht mehr viel. Allerdings erspart mir mein Bedienungsfehler, mich eingehender mit der Thematik des Abtauens des Bordkühlschranks auseinander setzen zu müssen. – Irgendwas ist immer! – „Gute Nacht!“

Die nun zur Bordausstattung zählende satellitengestützte Wetterstation verrät mir um 7.00 Uhr, dass knackige 5,4°C im Emstal herrschen. Und da ich über Nacht die Heizung auf erfrischende 14°C stellte, ist es im Big B. nur unwesentlich wärmer. Apropos Nacht. Die größten nächtlichen Plaudertaschen an der Alten Ems scheinen die Stockenten zu sein. Das Aufstehen (sich in die Luft erheben), Abstreichen (Wegfliegen) und Einfallen (sich niederlassen) dieser Wildenten an der Ems kann nicht lautlos geschehen. Es stört mich nicht, schließlich habe ich mich in ihrem Wohnzimmer einquartiert.

Ein Biber?

Um 7.15 Uhr stehe ich am Dortmund-Ems-Kanal und glaube meinen Augen nicht zu trauen! Auf alle Fälle größer als der (knapp kaninchengroße) Bisam, vielleicht sogar größer als die bis zu 8 Kilogramm schwere Nutria, schwimmt vor meinen Augen ein Nager aus der Uferböschung ins offene Gewässer. Ich kann ein typisches Kennzeichen, den abgeplatteten Schwanz (Biberkelle), nicht einwandfrei erkennen. Ich wünsche es mir, aber ich wage es nicht, zu behaupten, ich hätte den Biber an der Alten Ems gesehen.

„Gehe nicht, wohin der Weg führen mag, sondern dorthin, wo kein Weg ist, und hinterlasse eine Spur.“ – Jean Paul

Das mir gegenüberliegende Ufer der Alten Ems hat mich schon immer interessiert. Ich habe bereits zwei gescheiterte Expeditionen durch die Niederung des Seitenarms hinter mir und werde heute den dritten Versuch unternehmen, ans andere Ufer zu gelangen. Wieder folge ich einem Wildwechsel. Heute lasse ich mich nicht ablenken, um nicht wieder an der Düther Schleuse zu enden. Ich komme gut voran, habe den Blick viel zu lange am Boden und werde jäh durch den morschen Ast einer Weide, den ich mir quasi „ins Auge laufe“, gestoppt. Das schmerzt. Mein Auge tränt, aber ich will es heute schaffen. Schließlich stehe ich der Badestelle des CP Emstal gegenüber. Um mich herum Bäume, Sträucher und in 15-20 m Entfernung ein riesiges Feld. Wäre ich nicht dem Wildwechsel gefolgt und hätte des Öfteren einmal nach oben geschaut, der morsche Ast wäre nicht in meinem Auge gelandet und die Expedition in die Niederung der Alten Ems wäre ein Spaziergang geworden. – Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Nach meiner Rückkehr ins „Basislager“ spüle ich mein Auge unter der Dusche. Es gelingt mir die Splitter heraus zu spülen und Familie Sandker leistet, als sie mein „Matschauge“ bemerkt, sofort Erste Hilfe.

Bibers Unterschlupf?

Am nächsten Morgen suche ich die Stelle auf, an der ich tags zuvor den Nager entdeckte. Heute stehe ich auf der anderen Uferseite der Ems und versuche, das Tier mit dem Fernglas aufzuspüren. Vergebens. In der Uferböschung entdecke ich zwar einen „Trampelpfad“ und einen „Rastplatz“ in der Nähe des gestrigen Treffpunkts, aber nicht mehr. Nur einige Entenpaare und zwei Blesshühner lassen sich desinteressiert in Ufernähe treiben. Offensichtlich wollen sie mir nicht behilflich sein, dabei will ich doch nur fotografieren.

Einmal so richtig „von oben herab“ …

Unerwartet bietet sich mir die Möglichkeit zum Aufstieg. Eine Chance, die ich natürlich nicht ausschlage. Mit dem Steiger, einer Hubarbeitsbühne, geht es steil nach oben. In luftiger Höhe schwenke ich die Kamera einmal in die Runde und atme erleichtert auf, als wir den Boden wieder sicher erreichen. Den totalen Überblick zu besitzen, ist bestimmt sinnvoll und nützlich, dann aber doch lieber mit beiden Füßen auf festem Untergrund. Nee, ist nicht mehr weit her mit meiner Höhenfestigkeit.

Der Schriftsteller Helmut Walters sagte: „Mit jeder Sprosse, die man erklimmt, schwankt die Leiter mehr.“ – „Dies gilt auch für Hubarbeitsbühnen ohne Sprossen“, sage ich.

Am Nachmittag möchte ich noch einmal meinen NP-Markt des Vertrauens in Walchum besuchen. Bei meinem ersten Besuch vor zwei Tagen beschlich mich so ein fremdartig-seltsames Gefühl, das mir sagte: „Hier hat sich etwas verändert. Hier herrscht eine ganz andere Stimmung. Es liegt etwas in der Luft.“ Ja, und dann erkenne ich es. Es liegt zwar nichts in der Luft, steht aber in den Gängen: verpackte Ware. Sie wartet darauf, in die Regale sortiert zu werden. Aus manchen Regalen und Kühltruhen leuchten 20-, 30- und 50%-Prozent Etiketten an einigen Waren, die ihr Mindesthaltbarkeitsdatum fast erreicht haben. Die MitarbeiterInnen sind vor Ort, vermeiden aber einen Blickkontakt, wollen nicht so recht angesprochen werden und ich weiche inzwischen einem zweiten Rollcontainer aus, der dieses Mal herrenlos vor den Kühlregalen steht. – Ich komme wieder, werde vergleichen und berichten. Nicht nur über die Qualität und das Preis-/Leistungsverhältnis der Waren.

16.23 Uhr. Sage und schreibe 10°C im Emstal. Gut, wir haben April. Dafür regnet es nun auch schon seit mehr als einer halben Stunde. Rechtzeitig mahnte mich meine innere Stimme, die Markise einzufahren, Tisch und Stühle unterzustellen. Und nun? Nun sitze ich bei einem würzigen Klassiker im Frühjahr (Maibock) und überlege, ob ich noch einmal losschwimme und einige (Unterwasser-)Aufnahmen mache. Während ich diesen Satz schreibe, blickt mich eine entrüstete Sony Alpha 77 nebst 18-270 mm Objektiv an und ist versucht, mir die Frage zu stellen: „Ist noch alles klar?“ – Gut, dann eben nicht.

Weiden. Vom Zwergstrauch bis hin zur 30 m hohen Weide ist alles dabei

18:41.38 Uhr. Der nicht enden wollende Regen endet abrupt, wie er begann. Zwischenzeitlich habe ich zum wiederholten Male einige Erzählungen Heinrich Bölls gelesen: „Abenteuer eines Brotbeutels“, „Die Waage der Baleks“, „Schicksal einer henkellosen Tasse“, auch die „Bekenntnisse eines Hundefängers“. Es ist schon merkwürdig, aber bei jedem, auch wiederholten Lesen dieser zwischen 1950 und 1953 veröffentlichten Erzählungen, lese ich eine für mich neue Erzählung. Ich kann mir die Inhalte der Heinrich Böllschen Erzählungen nicht merken. Sie „rauschen“ an mir vorbei. Das hat der Literatur-Nobelpreisträger sicherlich nicht verdient, doch was soll ich machen? Ich kann sie nicht verinnerlichen. „Der Engel schwieg“. 1992, 40 Jahre nach seiner Entstehung veröffentlicht, steht immer noch ungelesen in meinem Bücherregal.

Ganz anders geht es mir mit Siegfried Lenz, dem meiner Meinung nach bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwartsliteratur. „Der Mann im Strom“, „Jäger des Spotts“, „Die Erzählungen 1949-1984“, „Lehmanns Erzählungen oder So schön war mein Markt“ sowie „So zärtlich war Suleyken“, um nur einige zu nennen. Ich kenne und besitze (fast) jeden seiner Romane, jede seiner Erzählungen, inklusive der Zeichensetzung, habe ich in mich aufgenommen. Und noch heute kann ich mich schwarzärgern, dass einer meiner bequemsten und kraftlosesten Deutschlehrer einst die Ehre zu Teil wurde, Siegfried Lenz nach einer Veranstaltung der Goethe Gesellschaft mit dem Auto aus der Wesermarsch nach Hamburg zu fahren. – Womit hatte er das verdient? Der Lehrer? Nein, Siegfried Lenz!

Er war an diesem Nachmittag mehr zu hören als zu sehen: Fasan

19:19.10 Uhr. Es regnet erneut. Ich lege ein Hörbuch ein: „So zärtlich war Suleyken“. Ich werde synchron mitsprechen. – „Mein Großvater, ein Herrchen von, sagen wir mal 71 Jahren, hatte sich gerade das Lesen beigebracht, als die Sache losging. Die Sache, darunter ist zu verstehen …“ (So beginnt „Der Leseteufel“).

Und dann sind die Tage im Emstal erst einmal wieder vorüber. Auf der A31 schmiede ich bereits neue Pläne für einen erneuten Besuch. Dann wieder gemeinsam mit der besten Ehefrau von allen und dem „Frollein“! – „Die Schwärmerei für die Natur kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte.“  – Bertolt Brecht.