Mit 60 Km/h fahren wir durch den Baustellenbereich der A28 zwischen den AS Apen/Remels und Filsum. Wir haben Glück, denn einen Tag später, am Karfreitag, wird sich hier der Verkehr auf vier Km Länge stauen. Da sitzen wir bereits im Zweistromland am Frühstückstisch und hören den Verkehrsfunk.

Es ist bereits einige Zeit her, dass wir mit Big B. unterwegs waren und meine Bezeichnung „Zweistromland“ bedarf eventuell einer näheren räumlichen Zuordnung. Es handelt sich nicht um das historische Mesopotamien, dem einst wichtigsten Zentrum des Alten Orients zwischen Euphrat und Tigris. Es ist der Campingplatz Emstal bei Sustrum/Emsland zwischen dem Dortmund-Ems-Kanal und der Ems gelegen. An einem alten Emsarm zwischen den Ortschaften Sustrum und Fresenburg haben wir wieder einmal unsere Zelte aufgeschlagen.

„Halt!“ – Insider werden mich sofort korrigieren wollen: „Düthe“. Düthe heißt die nächste Ortschaft, nicht Fresenburg. Das stimmt, aber abgesehen von der Düther Schleuse, dem dort gelegenen Ausflugslokal und eines nicht enden wollenden 50-Km/h-Bereichs, hat es sich hier auch schon „ausgedüthet“. Ich erlaube mir daher, diesen Ort ein wenig zu vernachlässigen.

Fünf Monate stand Big B. in der Scheune unseres Vertrauens. Fünf Monate waren wir nicht auf Achse und bauten „unser Lager“ weder auf, noch ab. Unsere heutige Reise erfordert Überlegung und Geduld. Zwar sind wir von straßenverkehrstechnischen Widrigkeiten verschont geblieben, aber das erste Rangieren mit dem neuen Zugpferd und der anschließende Aufbau kosten Zeit. Viel mehr Zeit als gewohnt. Wir sind ein wenig aus der Übung. Plötzlich steht Big B. zu dicht an einer Fichte, auf einmal ist das in Sustrum stets ausreichende und zehn Meter lange Stromkabel ca. 30 cm zu kurz und ich habe das Gefühl, zwei linke Hände, die ausschließlich über Daumen verfügen, zu haben.

Nachdem uns ein humorvoller Platznachbar verschmitzt lächelnd darauf hinweist, dass es bald zu dämmern beginnt, können wir unsere Arbeiten noch bei Tageslicht abschließen und schließlich „Vollzug“ melden. Wir brechen zu einem ersten Spaziergang entlang der Ems auf. Luna ist begeistert, der besten aller Ehefrauen gefällt es hier auch. Vollkommen selbstlos nutze ich diese beschwingte Stimmung, um uns später mit einem friesisch-herben Pilsener und einem belebenden „Acquavite Di Pere Williams“ aus Südtirol zu belohnen.

Um 03.20 Uhr beschließt mehr Luna als ich, dass es an der Zeit sei, eine erweiterte Platzrunde zu drehen. Ich taumele aus dem Wohnwagen. Schnell in ihrem Element, drängt Luna in Richtung Brinkstraße. Ich stolpere hinterher. Nicht ahnend, dass mir ein Straucheln schon bald zum unbehaglichen Verhängnis werden soll. In Höhe des „Durchstichs“ an der Brinkstraße, Luna hat die Nase am Boden und verfolgt ganze Heerscharen an Rehen, Hasen, Fasan & Co., humpelt das Frollein plötzlich. Im Dunkeln ertaste ich ihre linke Pfote und entfernte „Irgendetwas“. Dieses „Ding“ will sich gar nicht mehr von meinen Fingern lösen. Ich nehme die Hand näher in Augenschein und in Richtung Nase. Es ist noch zu dunkel. Ich halte das „Etwas“ und nehme „ortsfremden Geruch“ wahr. Jetzt stolpere ich abermals. An dieser Stelle soll die Schilderung meines nächtlichen Abenteuers enden. – „Ja!“ es war „Scheibe“.

Der Berufssoldat, auch der seit neun Jahren pensionierte, hat stets alles „am Mann“. Eine Kleinigkeit, dieses Malheur umgehend zu beheben. Einweghandschuhe, Tücher und Tüten in der linken, Desinfektionsspray, Wasseraufbereitungstabletten, Taschen-messer, Wagenheber sowie Ring- und Gabelschlüssel der Größen 8 bis 19 in den anderen Taschen der „Überlebensjacke“ verstaut, ist es eine Kleinigkeit, diesen hinterhältigen biologischen Angriff zu neutralisieren. – Um 06.30 Uhr blicke ich erneut in das Paar erwartungsfreudiger bernsteinfarbener Augen: „Nein, Luna!“

Eigentlich wollen wir nach Klazienaveen/NL, aber einmal in Sellingen falsch abgebogen, führt uns die Reise über Vlagtwedde nach Winschoten. So lautet meine offizielle Darlegung für den von mir eingeschlagenen „kleinen Umweg“. Nur am Rande erwähne ich, dass wir an diesem Tag niederländische Ortschaften wie Jipzinghuizen, Ellersinghuizen und Blijham kennenlernen. Kurz, ich habe uns mächtig in die Irre geführt. „Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, kennt nur eine Seite davon.“ – Und eben davor möchte ich uns an diesem Tag bewahren.

An diesem Ostersamstag ist auch in Winschoten etwas los. Eine sehr gut besuchte Fußgängerzone und ein geschäftiger Wochenmarkt tragen ihren Teil dazu bei. Wir suchen „mal eben“ einen Parkplatz und werden nach längerer Suche, der neue Vivaro ist um einiges länger als unser Ehemaliger, auch fündig. Um einige Mitbringsel reicher, schlagen wir über den Wochenmarkt den Rückweg zum Auto ein. Und da stellt er sich uns in den Weg: Ein Fischimbiss, der „Vis Specialist Westerhuis aus Termunterzijl“. „Kibbeling!“ Augenblicklich geht nichts mehr. Ausgenommen der zwei Portionen Backfisch, die wir uns hier kaufen und stehenden Fußes verzehren.

Zurück in Sustrum. Geduld. Unser ruhiges und beherrschtes Ertragen von etwas, das zusehends unangenehmer wird und nicht enden zu wollen scheint, ist angezeigt und gefordert: Oma erklärt ihrer Enkelin und unabwendbar auch anderen, vernehmlich den Lauf der Welt und des Universums. Nichts lässt sie aus. Ganz bestimmt gehört sie zu den liebenswürdigsten, fürsorglichsten und freundlichsten Großmüttern, die so viele Enkelkinder vermissen. Aber an diesem wunderschönen, sonnigen, vorösterlichen Nachmittag, der zum die Ruhe genießenden Faulenzen in der Sonne einlädt, wird sie zur bitteren Geduldsprobe. Sie läuft zur Höchstform auf: Ohne Pause. Ohne Punkt und Komma. Ohne Rücksicht auf Verluste. Wissen ist Macht oder in diesem Fall zutreffender: Wissen macht Krach.

Samstagnachmittag. Oma gerät mehr und mehr unter nervliche Anspannung. Ihre Enkelin ist wissbegierig. Oma klärt auf, legt aus und begründet. Inzwischen jegliche Interpunktion und besonders ihre Atmung bedrohlich vernachlässigend, widmet sie sich eindringlich und weithin vernehmbar, jedoch mehr und mehr unter Hochspannung stehend, den Themenkreisen, die die Welt bzw. ihren Nachwuchs bewegen. Endlich naht Rettung: Die Tochter holt die Enkelin ab. – „Lobet den Herrn!“ – Und die Tochter.

Man kann es so oder so sehen: Die Aufforderung am Ostersonntag gegen 06.30 Uhr zu einem kleinen Osterspaziergang entlang der Ems aufzubrechen, mag den einen schrecken. Andererseits gehört das Emstal zu dieser frühen Stunde allein den beiden Anglern am alten Seitenarm, der Familie Sandker, die bereits wieder aktiv das Zweistromland auf Vordermann bringt sowie dem Frollein und mir. Und dieser letzte Aspekt lässt Luna und mich in Sustrum stets zu Wiederholungstätern werden.

„Uns scheint, als gehöre die Ems zu dieser Zeit uns. Ich werde jetzt, Ehrenwort, einige schöne Bildchen anfertigen. Kann sein, dass sie gleich gelingen, kann sein auch nicht. In jedem Fall, nur Mut, werde ich sie später gern zeigen.“ So ähnlich könnte der Schriftsteller Siegfried Lenz diese Worte dem in Masuren aufgewachsenen Alec Puch, einst bei einem wandernden Scherenschleifer als Gehilfe angestellt, in den Mund gelegt haben. Und gern imitiere ich diese Mundart, wenn wir uns von der besten aller Ehefrauen zu unserer frühmorgendlichen Emspatrouille verabschieden.

Es kann sehr schnell gehen. Gerade noch den Frühnebel vor Augen, kann dieser nur wenige Minuten später verschwunden sein. Wenn die Sonne über den Bäumen an der Brinkstraße aufgeht, haben die Nebelschwaden über den Äckern keine Chance. Nur der Frühtau, diesmal nicht zu Berge, sondern am Ufer der Ems, besitzt noch die Kraft durch die Lüftungsöffnungen, die für Atmungsaktivität in meinen Crocs™ sorgen, in eben diese „Pantolette“ zu kriechen, um das „Seelenleben“ meiner Zehen zu kühlen. Ich nehme es gern hin. Nach den ersten lohnenden Motiven ist alles vergessen.

Luna, in Anbetracht der Brut- und Setzzeit an der Leine, was immer wieder nicht unterrichtete HundehalterInnen verblüfft, hat längst die Fasanenhenne im Gebüsch ausfindig gemacht. Diese ergreift laut zeternd die Flucht über das benachbarte Feld. Es lässt den Angler am gegenüberliegenden Ufer der Ems vollkommen kalt. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, seine Angelhaken zu beködern.

Wie zum Spott springt jetzt in der Mitte des Altarms der Ems ein Fisch, der, ich habe 1977 das Große (Angler-)Latinum gesegnet bestanden, mindestens die Größe eines übergewichtigen Schweinswals hat. Wenn nicht noch größer! Die Bugwelle, die er verursacht überschwemmt die angrenzenden Felder und spült mir den Frühtau aus den „Badelatschen“. So oder so ähnlich, könnte es gewesen sein. – Errare human est (Sophronius Eusebius; „Irren ist menschlich“).

Wie gewohnt haben wir unsere Fahrräder und das Lunamobil, den kleinen Hundeanhänger, dabei. Nicht dass, das Frollein unserem Tempo nicht folgen könnte, aber es gibt Situationen in Städten und Gemeinden, da transportieren wir Luna lieber im sicheren Gefährt. Außerdem sorgt der Anblick, wenn sie mit wehendem Behang (Ohren) aus ihrer Kutsche dem Volke erhaben zuwinkt, für Gesprächsstoff. Heute erlaufen wir allerdings die Runde entlang des Dortmund-Ems-Kanals über Steinbild und zurück zur Düther Schleuse und dem Campingplatz.

Der weiß-blaue Ableger unserer auch bayrischstämmigen Familie würde zu Recht von „Kaiserwetter“ sprechen. In Steinbild haben sie den unschönen Bau vor der Kirche abgerissen und durch ein neues Haus ersetzt. Dies gefällt uns. Doch es schmälern noch ein, zwei weitere „Bausünden“ das Erscheinungsbild der St.-Georg-Kirche. Ich denke, wir werden da einmal intervenieren müssen … oder (bestimmt) nicht. – Geschmack ist eben Geschmackssache.

Ein sonniges Osterwochenende neigt sich seinem Ende entgegen. Wir brechen unsere Zelte ab und starten in Richtung usA (unser schönes Ammerland). Hätte sich nicht mein seit einigen Jahren ganz und gar nicht vermisster falscher Freund Pollinosis (Heuschnupfen) ebenso überraschend, wie heftig angekündigt, es wäre ein noch viel schöneres Wochenende geworden. Hasel, Erle und Birke sowie einige weitere Kräuter gingen mir ganz schön auf die Nerven.
