Es passiert immer nur den anderen …

… bis man sich schließlich selbst in den Reihen dieser anderen entdeckt.

Bisher ging es immer gut. – … „tausend und eine Nacht und es hat „boom“ gemacht“ … (frei nach Klaus Lage)

Fast daheim. In zehn Minuten werde ich vor unserem Haus stehen. Diese Hoffnung ändert sich innerhalb weniger Sekundenbruchteile. Von links springt das Reh auf die Straße. Unsere Blicke treffen sich. Und dann ist es auch schon zu spät. Ich kann nicht ausweichen. Ich bremse. Obwohl ich nur ca. 50 Km/h fahre, gibt es einen heftigen Aufprall.

Nur ein kleines Reh …

Gefühlte tausendmal habe ich sie gelesen: Aufklärende Artikel wie „Wildunfall. So verhalten Sie sich richtig.“ – Und jetzt? Ich blicke auf ein verendendes Tier. Ein Anblick, der auch den ehemaligen Berufssoldaten nicht ungerührt lässt. Die eingeschalteten Warnblinkleuchten spiegeln sich „taktvoll“ im nassen Asphalt und plötzlich frage ich mich: „Wo befinden sich Warndreieck und -weste?“ Natürlich liegen diese an vertrauter und leicht erreichbarer Stelle im Auto, aber ich scheine mich im ersten Schreck nicht daran zu erinnern.

„Ach, halb so schlimm. Zahlt ja die Versicherung.“ – Gut gemeinterer Rat und Trost kann ganz schön …

Inzwischen stehe ich mit angelegter „gelb schreiender“ Warnweste im fließenden Verkehr auf der Straße. Unmittelbar an einer unbeleuchteten Anschlussstelle zur BAB 29. Es ist fast 22:00 Uhr. Stockdunkel. Autos nähern sich. Die von mir abgesicherte Unfallstelle muss bemerkt werden! Ich erwarte im Zeitalter Speisen fotografierender, Kussmund- oder six-pack-Selbstbildnisse verschickender sowie „facebookender & whatssappender“ Mitmenschen keine persönliche Unterstützung, aber Rücksicht. Mann und Frau pfeifen auf die Situation und an mir vorbei. Ich deute immer wieder auf das tote Reh in der Fahrbahnmitte, das zu bergen mir im herrschenden „(Tief-)Flugverkehr“ bis jetzt verwehrt blieb. Es scheint keinen zu interessieren. Im Gegenteil, das Tier wird sogar überrollt … und es wird dennoch weitergefahren.

Aus den Fugen geraten

Die informierte Polizei rät mir, die Unfallstelle schnellstens zu verlassen und an einem sicheren Ort zu warten. Ich schleppe das Tier (ohne angelegte Gummihandschuhe; „Wo sind die überhaupt?“) an den Straßenrand, sammle Fahrzeugteile ein und fürchte dabei, besonders in den Momenten, da ich dem Verkehr den Rücken zu drehen muss, um mein Leben. Ich bin froh, als ich auf dem nahegelegenen beleuchteten Parkplatz stehe und vor dieser Schar unerbittlich-rücksichtsloser Verkehrsteilnehmer*Innen sicher bin.

Du denkst, Du bist auf alles (mental) vorbereitet …

Mir bleibt Zeit, über mein angelesenes Wissen hinsichtlich eines Wildunfalls nachzudenken. Vorausschauendes Fahren, erhöhtes Gefahrenbewusstsein, Gefahr durch Ausweichen, Unfallstelle absichern, gründliche Spurensuche am betroffenen Fahrzeug, Unfallaufnahme, Polizei, Jagdpächter, Wildschadenbeseitigung. Liest sich alles schnell und leicht verständlich in den einschlägigen Artikeln. Und jetzt? – „Wer ist der zuständige Jagdpächter in dieser Gegend, die ich nur flüchtig kenne? Ja, wo befinde ich mich eigentlich? Ist dies noch die X-Straße oder bin ich bereits auf der Y-Allee? Ist es die Gemeinde A oder B in der sich der Wildunfall ereignete?“

Unfall mit Haarwild

Es ist entspannt und immer alles ganz einfach zu verstehen, wenn man daheim im Ohrensessel bei einer Tasse Kaffee den Wildunfall-Artikel im Journal des Automobilclubs liest und sich bei ähnlichen Gedanken, wie „Ja, kenne ich“, „Na klar, so und nicht anders“ sehr souverän auf der Seite der „Erleuchteten“ wähnt. – Aber in der Dunkelheit, bei Nieselregen, bei instabiler Mobiltelefonverbindung und umgeben von getriebenen und eilenden Zeitgenoss*Innen sieht es dann furchterregend anders aus.

Ich klage nicht an. Ich verarbeite nur die schwere Kost dieses Abends und bedanke mich bei den beiden sehr freundlichen und hilfreichen Polizeibeamten der Dienststelle Rastede.