Naja, eigentlich ist dies bereits der vierte Ausflug mit dem Chateau Home Car Racer 39, der 1998 in Oirschot das Licht der niederländischen Wohnwagenwelt erblickte. Doch über unsere beiden ersten Reisen gibt es (noch) keine Aufzeichnungen. – Chateau? Nein, mit einem französischen Landschloss oder einem Weingut in der Weinbauregion Bordeaux hat der Kleine nichts gemeinsam. Vielmehr stammt „der Racer“ aus dem Süden der Niederlande, genauer aus der Provinz Nordbrabant, die an die niederländischen Provinzen Limburg, Gelderland, Südholland und Zeeland und an die belgische Region Flandern grenzt. Ja, und nun steht er mit deutscher Staatsangehörigkeit, die ihm der TÜV Nord verlieh, in Wiefelstede und begleitete uns am vergangenen Wochenende in unsere alte Heimat. – „Hurra Butjarland, Du schast leben. Hurra Butjarland!“ (Butjadingen hat eine eigene, von Emil Pleitner verfasste, Hymne.)
Schon wenige Kilometer nach unserem Start kam es zu einem ersten technischen Halt: die Caravanspiegel räkelten sich noch behaglich in eine Wolldecke gewickelt im Wohnwagen und zeigten nicht das geringste Bestreben, sich in Richtung ihres Arbeitsplatzes zu begeben. Unvorstellbar, obwohl unser Captiva, der dynamische SUV für die ganze Familie, über markante Linien und Außenspiegel verfügt. An eine spontane Aufnahme ihrer Rückblick gewährenden Tätigkeit war einfach nicht zu denken. – „Wenn man nicht alles selber macht!“ Schließlich saßen sie fest, die beiden arbeitsscheuen Adjutanten. Unlösbar mit den Captiva Außenspiegeln verbunden und fest in ihrem Wirkungsbereich. Und da wir einmal „pausieren“, schnell noch die Kühlschranktür verriegelt. Irgendwer hatte dies bei der Abfahrt vergessen.
Auf der Störtebekerstraße, die eigentlich Bäderstraße heißt und die ansonsten die anspruchslose Bezeichnung K197 trägt, geht es nach Sehestedt. „Störtebeker“, gleichfalls Klaas Störtebecker oder Nikolaus Storzenbecher genannt, das klingt nach Freibeuter, das erinnert an die berüchtigten Kapitäne Gödeke Michels und Magister Wigbold, das riecht förmlich nach den Anführern der auch als Likedeeler bezeichneten Vitalienbrüder. Das verspricht Abenteuer!
Wir lassen das Strandbad Sehestedt am Jadebusen links liegen und fahren kurz vor dem Ort Iffens auf dem Beckmannsfelder Weg in Richtung „Pütten“. (Anm.: Eine Pütte ist ein durch Erdaushub für den Deichbau entstandenes Wasserloch im Deichvor- oder -hinterland.) Seit 1986 ist dieser Bereich des Niedersächsischen Wattenmeeres als Weltnaturerbe und Nationalpark unter strengsten Schutz gestellt. Und das ist gut so. Wenn ich daran denke, wie mein Schulfreund Uwe und ich hier in den 1970er Jahren mit der Zündapp Sport Combinette (Baujahr um 1966) durchs Deichvorland bretterten, dann hat sich das Wattenmeer nun wirklich diese Ruhe verdient. Später fuhren wir noch mit den Autos bis an den Rand der Pütten, um dort im Scheinwerferlicht der VW 1303 (Käfer) und unserer Opel Kadett Coupes das auch bei den Bewohnern des Doppelkontinents Amerika gern in gehobener (Wochenend-)Stimmung veranstaltete skinny-dipping zu praktizieren. Allerdings nannten wir es seinerzeit „mit nacktem Hintern ins Wasser springen“.
In Beckmannsfeld hat sich im Laufe der Jahre einiges verändert. Wo früher höchstens einmal ein Bauwagen des Küstenschutzes, die Zündapp, die Kreidler oder das verrostete Fahrrad eines Landwirtes, der seine Tiere zählte, standen, finden wir heute die „Wege ins Watt“ der Arbeitsgruppe Kunst am Deich. Wir mustern die hier installierte „blasse“ Bildhauerei, genießen den weiten Blick über den Jadebusen, über Butjadingen und auf die Salzwiesen und wählen dann den Weg zurück aus dem Wattenmeer in Richtung Kreisstraße, die in Iffens zur Landstraße 859 wird. Und schlechter wird sie obendrein auch: 50 Km/h. Wähnte sich der „Fliegende Holländer“ eben noch in lateraler Stabilität, für Nicht-Seebären: in ruhigem Fahrwasser, so gerät er nun ins Rollen und Wanken. Noch einmal für Nicht-Seebären: ins Schaukeln. Bei den nun dominierenden Straßenverhältnissen und angesichts der Tatsache, dass wir kein Ballastwasser in seitliche Schlingertanks pumpen können, müssen wir uns damit abfinden, dass unser Schiff durch den Seegang ins Rollen gerät. Und so rollen wir im wahrsten Sinne des Wortes nach Eckwarderhörne.
Am äußersten Zipfel Eckwarderhörnes, dem Preußeneck, stellen wir das Gespann auf einem Parkplatz ab. Platz soweit das Auge reicht. Ich drehe zwei Ehrenrunden und stelle den nun ausgerollten „Flying Dutchmann“ am Rand der Stellfläche ab. Auf dem Nachbargrundstück frönt ein Jünger des 1966 im Niederösterreichischen Waldviertel geborenen Doppel-Grillwelt- und Fleischermeisters Adi Matzek seiner Passion, dem Grillen. Momentan befindet er sich noch in dem heiklen Stadium „vom Feuer zur Glut“, also in einer der kniffligsten Phasen des Grillanfeuerns. Er scheint ein Profi zu sein. Trotz seiner lebhaften Betriebsamkeit entgeht ihm nicht eine unserer Bewegungen. Und ich bin mir sehr sicher, am Klang der Münzen im Geldrückgabefach des Parkautomaten erkennt er, für welchen Zeitraum wir den Parkplatz gebucht haben. Und das ist gut so: wir sind uns gewiss, dass sich keine unbefugte Person unserem Gespann unbemerkt auch nur auf 7,35m nähern wird. Adi Matzeks Grillspezialist hat ein „hellhöriges Auge“ auf unseren Chateau ´39.
Vom Preußeneck blicken wir auf ein im Dunst liegendes Wilhelmshaven und den Jadebusen, die etwa 190 km² große Meeresbucht zwischen der Wesermarsch und der Ostfriesischen Halbinsel. Am Strand verfolgen wir das Schauspiel eines sonderbaren Trios mit Hund. Während sich zwei Personen ebenso ungeschickt wie vergeblich bemühen, ihren vollschlanken Vierbeiner ins Wasser zu treiben, bückt sich alle 2,50 Meter eine dritte Person, um irgendetwas aufzuheben und dieses Etwas dann stets mit einem schrillen Aufschrei oder begleitet von einem nicht gerade auf Erkenntnisvermögen basierendem Kreischen wieder zu Boden fallen zu lassen. – Auch eine unterhaltsame Art, sich und besonders andere, zu unterhalten.
Und dann ist da dieser Urlauber mit seinem unverwechselbaren schwäbischen Dialekt. – „A gschtandenr Mo!“ – Absolut kenntnisreich erklärt er seinen Begleiterinnen den Unterschied zwischen Ebbe und Flut, spricht von 12 Stunden und 25 Minuten und erläutert, warum der Austernfischer Austernfischer heißt und dass dieser Wattführer, dabei zeigt er auf ein Foto im Schaukasten des Kassenhäuschens der Fähre Eckwarderhörne – Wilhelmshaven, ihm sachverständiger erscheint als der Jan im letzten Urlaub. – „Ha no, des isch halt so!“ – Im Hintergrund krakeelt die gebückt gehende, ihre Fundsachen stets fallen lassende Frau. In Anerkennung der Erklärungen des Schwaben? Wohl kaum.
Nordseeküste ohne Fischbrötchen, ist wie New York ohne Brooklyn Bridge! Wir brechen über Sinswürden, Tossens, Ruhwarden und Langwarden auf nach Fedderwardersiel. Kurz vorm Deich geht´s über das Fedderwarder Sieltief runter in den Sielhafen. Hier finden wir sie, die Oase maritimer Gaumenfreunden: Marschalls Fischspezialitäten. Es gibt natürlich auch das Hotel „Zur Fischerklause“ oder das Restaurant „Nordseeblick“ in „Fed-Siel“, aber was sind diese, sicherlich renommierten Restaurants, gegen den Imbisswagen, Am Hafen 7? Es folgt die formvollendete Begrüßung, wie sie nun einmal im Norddeutschen Tiefland üblich ist. Auf eine zugewandte Körpersprache achtend, zeugt sie nicht nur von der Fähigkeit, sich mit Leichtigkeit auf dem gesellschaftlichen Parkett, wie hier im Fedderwardersieler Sielhafen, zu bewegen. Nein, sie leitet mustergültig auch das Verkaufsgespräch ein ohne dabei die Erkundigung nach dem Wohlbefinden des Vaters, der ja in Landeshauptstadt des Freistaates Bayern lebt, zu vernachlässigen. – „Na, alles in Ordnung? Geht´s gut? Und was macht Vaddern? Geht´s ihm gut?“ „Ja, alles in Ordnung. Wir können nicht besser klagen, es geht ihm und uns sehr gut!“ – So, genug geplaudert. „Zweimal Bratfisch mit Pommes und Mayo, bitte.“ Erst einmal. Wir wollen mal sehen, ob sich unsere „Fangquote“ später noch steigern lässt. – Und sie lässt sich verbessern: frische Brötchen mit rohen Zwiebeln und in Kräutern eingelegtem Matjesfilet! Eine mich begleitende Dunstwolke dieser lukullischen, dem Meer entrissenen Delikatesse soll später die „beste Ehefrau von allen“ unbeabsichtigt doch jäh aus ihren Träumen im Wohnwagen reißen und Luna, die flinkste Ausreißerkönigin der Gattung Kleiner Münsterländer, Anlass zur augenblicklichen Flucht in neuer persönlicher Bestzeit aus dem „Fliegenden Holländer“ geben.
Ich koche Kaffee. Ich koche verlegen den Kaffee. Es gelingt mir, den Matjes nebst Zwiebeln und Co. mittels des wohl komplexesten Elementes im Charakter eines Kaffees, dem Aroma, aus dem Wohnwagen zu verbannen. Die „beste Ehefrau von allen“ lächelt, Luna schaut mit diesem fragenden Blick: „Gibt´s Leckerli zum Kaffee?“ in den Wohnwagen.
„Mensch, was willst Du Meer mehr?“ Wir sitzen in der Wohlfühlecke und schauen ins Fed-Sieler Hafenbecken. Da sucht es uns heim, ein nur kurz andauerndes, aber ungestüm eintretendes Niederschlagsereignis. Eine gute halbe Stunde regnet es „volle Kanne“. Der Sielhafen droht überzulaufen! Ich blicke auf die Uhr und rechne beängstigt. Zwölf Stunden und ca. 25 Minuten: Ebbe und Flut. Stehen wir hoch genug auf unserem Stellplatz im Hafenbereich? „Warschau! Frauen und Hunde in die Boote!“ (Für Nicht-Seebären: Warschau! = „Vorsicht“ oder „Achtung“; dieser Warnruf wurde vor mehr als 100 Jahren von Seefahrern aus den Worten „wahrnehmen“ und „schauen“ gebildet.) „Ich hole mir nur noch schnell ein letztes Matjesbrötchen vom vorbeitreibenden Imbisswagen!“ – Die Apokalypse bleibt uns erspart! Die vier auf das Weltende hinweisenden Reiter scheinen sich in Butjadingen verritten zu haben. Sie finden uns nicht.
Wir suchen und finden den Weg nach Nordenham. Über Burhave fahren wir an die Wesermündung. Blexen. Ja, hier wohnten wir viele Jahre und jedes Mal, wenn wir nun durch diesen Nordenhamer Stadtteil fahren, dann freuen wir uns. Freuen uns, dass wir 1998 nach Wiefelstede ins Ammerland umzogen. Wir fahren umher, wir „cruisen“. „Halten & schauen“ hier und da in Nordenham, besuchen den Atenser Friedhof und fahren schließlich auf der B212 in Richtung Brake/Utw.
Kurz hinter Rodenkirchen werden wir von einem im Konvoi fahrenden Trio, im geografischen Sinne osteuropäischer Reisender, auf dem Rüttelstreifen der immer mehr endenden Überholspur und trotz regem Gegenverkehrs passiert. Vier Kilometer später treffen wir an der Kreuzung B212/Breite Straße/Oldenburger Heerstraße (B211) wieder auf sie. Sie haben sich in der falschen Spur eingeordnet und wir dürfen uns schon jetzt auf eine erneute Begegnung mit ihnen auf dem Weg nach Oldenburg freuen.
Weiter geht es auf der B211 und A293 zu Metro Cash & Carry. Was hat dieser Großmarkt mit einem Ausflug zu schaffen? Nichts! – Der nun folgende Einkauf beendet unseren zweiten, der eigentlich der vierte Tagesausflug ist, mit dem „Flying Dutchman“.