… ist immer unsere beste Zeit.“ – Johann Wolfgang von Goethe
Eigentlich wollten wir bereits am Vormittag nach Sustrum aufbrechen, aber erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Und so stehen wir erst um 15.30 Uhr vor der Rezeption im Emstal und freuen uns, wieder einmal hier zu sein. Wir, das sind das Frollein und ich. Die Beste von allen vertritt akkurat die Interessen der Möbelbranche und hat uns für dieses Wochenende frei gegeben. Wir werden uns die Beine an der Ems vertreten.

Wir erreichen unseren Stellplatz und noch ahne ich nicht, dass ich heute einen neuen Rekord im Aufbau unseres „Zeltlagers“ aufstellen werde. Das Vorzelt soll uns vor Wind und Wetter schützen. Die Markise und ihre diversen Anbauteile bleiben an diesem Wochenende arbeitslos. Ich dagegen kann mich über mangelnde Beschäftigung nicht beklagen. 32 Kg Kampa Zeltbahn wollen in die Kederleiste eingefädelt werden. Die ersten Zentimeter sind kein Problem. Doch dann geht es in luftige Höhen. 2,60 m wollen erreicht werden. An Aufstiegsmöglichkeiten mangelt es mir nicht. Ich habe einen dafür bestens geeigneten Tritt im Gepäck. Nur, wie bringe ich 32 an meinen Armen zerrende Kilogramm in einem Rutsch in Position? Gar nicht. Also, zumindest nicht in einem Rutsch.

Stück für Stückchen fädele ich das Zelt in die Leiste ein. Es sind nur ca. 2,50 m, die ich bändigen muss, aber diese haben es in sich. Dann, ja dann habe ich es geschafft. Mein kontrollierender Blick sagt mir sofort: „Das war gar nichts!“ Irgendwann hat sich eine Schlaufe gebildet, die aus der Reihe tanzt, d.h. sie hat sich an der Kederleiste vorbeigemogelt. Also, das ganze noch einmal von neuem. Das komplette Vorzelt wieder aus der Führung ziehen, das angegriffene Nervenkostüm auf Neustart gesetzt und los geht´s.

Es gelingt mir, das Kampa „aufzuhängen“. Nach einer ersten groben Ausrichtung des Zeltes geht es ans Aufpumpen. Ja, Gestänge waren gestern, heute pumpt man. Ich bin dankbar, dass ich in meinem ersten Leben als Rudersklave auf einer römischen Galeere zwangsverpflichtet gewesen sein muss. Die Pumpe und meine Muskulatur arbeiten einwandfrei, ich richte zwischendurch immer wieder einmal das Zelt aus. Zupfe hier, schiebe da und wackle dort. Und „schwups“ steht das „Luftschloss“ in seiner ganzen Pracht vor mir. – Es ist inzwischen 17.45 Uhr. Doch, wer hat mehr Zeit als ich, der Ruhestandsbeamte im 11. Ausbildungsjahr?

Luna interessiert das alles nicht. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, das Tunnelsystem einiger Feldmäuse hinter dem Wohnwagen freizulegen. Die kleinen Nager scheinen ihr Domizil verlassen zu haben, aber das Labyrinth muss erkundet werden. Dementsprechend sieht das Frollein aus. Mausgrau und sandig wie eine Baggerschaufel.

Das Zelt steht, der Hund ist gereinigt und gefüttert, der Flurschaden eingeschlichtet und ich freue mich auf ein kühles Erfrischungsgetränk im Caravan. „Hallo? Wie sieht es denn hier aus!“ Nichts steht an seinem Platz. Kein Wunder, wir reisen solo und da ist nun mal nichts mit „sich ins gemachte Nest hocken“. Radio und Fernsehgerät sind schnell aufgebaut und in Betriebsbereitschaft. Doch: „Wo liegen noch einmal die Tischdecken, die Sets und …?“

Ich bin ein wenig geschafft und so beschränkt sich der Abendspaziergang auf eine kleine Platzrunde und den obligatorischen Kontrollgang zur Brücke an der Brinkstraße. „So viel Zeit muss sein“, meint Luna. Es herbstet an der Ems und somit tummeln sich Heerscharen von Enten auf dem Wasser. Ganz großes Kino für das Frollein. Sie entwickelt eine Zugkraft, die jedem Dieselross imponiert hätte.

Wieder im Wohnwagen bin ich zu müde zum Lesen. Ich überlasse es Siegfried Lenz, mir seine masurischen Geschichten „So zärtlich war Suleyken“ zu erzählen. Irgendwann zwischen den Episoden über Hamilkar Schaß und dem schönen Alec wollen mir die Augen zufallen. Wir raffen uns auf und gehen noch einmal „für kleine Mädchen“. Der Mond ist aufgegangen, die goldenen Sternlein prangen am Himmel hell und klar. – Schön, aber ich bin zu müde. Morgen ist auch noch eine Nacht.

Die Geschichte wiederholt sich: „Freitagmorgen. Zuverlässig macht das Frollein gegen 7.15 Uhr auf sich aufmerksam: Strecken, Fellpflege, Schütteln, ein wenig „quakiges“ Meckern, ein theatralisches Winseln, leicht überzogenes Gähnen, erneutes Kratzen mit dem Hinterlauf und wiederholtes Schütteln. Dann hat sie es wieder einmal geschafft und wir brechen zu unserem ersten „Gang durch die Gemeinde“ auf.

Auf der Brinkstraße nimmt uns ein silberfarbener Kleinwagen ins Visier und mit weitaufgerissenen Augen gelingt es dem sicherlich noch schlaftrunkenen Fahrer, uns in einem wilden Manöver auszuweichen. Er winkt verlegen und ist weg. Auf dem Rückweg fragt mich eine Autofahrerin nach dem Weg. Sie will nach Steinbild. Ja, da bin ich im Bilde. Aber sie will mir nicht so recht glauben, zu sehr ist sie von ihrer „Abkürzung“ überzeugt. Ihr Navigationsgerät hat sie erst gar nicht eingeschaltet. An meiner Empfehlung zweifelnd fährt sie weiter in Richtung Fresenborg. Gut, das liegt auch an der Ems, aber eben in der anderen Richtung.

13.00 Uhr. Beginn der Mittagsruhe im Emstal. Ja, eben für wenige Minuten die Augen schließen, die Augenlider auf innere Verletzungen absuchen und das verdächtige, nächtliche Geräusch aus der Matratze exakter lokalisieren. 13.20 Uhr: Strecken, Fellpflege, Schütteln, ein wenig „quakiges“ Meckern, ein gekünsteltes Winseln, leicht überzogenes Gähnen. – „Ja, Luna, wir brechen auf.“

Entlang der Ems erreichen wir Steinbild, überqueren die Brücke und laufen auf der anderen Uferseite zurück zur Schleuse in Düthe. Natürlich begegnen wir der Dame vom Morgen nicht. Sie ist ja in Fresenborg.
Luna beobachtet mit größtem Interesse ein abgeerntetes Maisfeld an der Brinkstraße. Irgendetwas muss da sein. Ich sehe es nicht, aber das Frollein. Und weil es eine willkommene Abkürzung zum Campingplatz ist, laufen wir über den Acker. Laufen? Die Kleine Münsterländerin zerrt mich über den Acker. Ich lasse es geschehen. Vielleicht ermüdet sie diese Arbeit. – Wer´s glaubt, wird selig.

09.49 Uhr. Tag der Deutschen Einheit. Ein leichter Wind weht durch das Emstal, der Himmel steht komplett unter Wolken. Und es will einfach nicht hell werden. Alles grau in grau. Den Radiostationen, die ich hier empfange, ist plötzlich eingefallen, etwas zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung zu bringen. Ich will nicht sticheln, aber für mich grenzt das an einen termingebundenen schmeichelnden Pflicht-Programmpunkt. – Keine Frage: Es ist gut, dass die einstige Sowjetzone, die unter dem Einfluss der russischen Besatzungsmacht zu einem deutschen Teilstaat, der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik wurde, wieder eine Einheit mit der Bundesrepublik Deutschland bildet. Auch wenn dies nach drei Jahrzehnten manche immer noch oder bereits wieder anders sehen.

Erst werde ich leicht angestoßen, dann legt mir das Frollein den Kopf auf das Knie. Mit ihrem unverwechselbaren und unnachahmlichen Wenn-Wir-Jetzt-Nicht-Losgehen-Sterbe-Ich-Blick, sagt sie eigentlich alles. Gut, das Vorzelt, das ich noch wind- und wetterfester machen möchte, kann warten. Kann warten? Nein, bei diesem Blick muss es warten.

Wir laufen entlang der Brinkstraße in Richtung Sustrum. Auf den Äckern ist die Kartoffelernte in vollem Gang. Es ist sehr interessant, zu beobachten, mit welcher Präzision die Maschinen über die Felder manövrieren. Technik hin, Technik her. Für Luna ist es wesentlich entscheidender, dass da ein Hund mitwirkt. Unermüdlich läuft dieser vor einem Trecker. Er weiß genau, wann es an der Zeit ist, den Rückweg anzutreten, weil die Zugmaschine demnächst wenden wird. Dieses Spiel wiederholt sich von Bahn zu Bahn, die der Traktor zurücklegt. Luna kann es nicht fassen. Auf das Doppelte ihrer Größe angewachsen, steht sie in der Leine und am Feldrand und scheint entrüstet zu fragen: „Was macht der auf meinem Territorium?“

Wir laufen weiter durch die Felder. An einem Sielgraben warten wir auf die Eisvögel, die hier eigentlich regelmäßig anzutreffen sind. Sie sind sehr kamerascheu. Ich habe sie noch nie „erwischt“: Wenn sie nicht zu weit entfernt waren, so flogen sie immer schon auf, bevor ich den Auslöser betätigen konnte. Heute ist es besonders entmutigend, denn sie sind nicht da. Und dann hat da auch noch jemand ein Tor, nein, einen Zaun, eine Barrikade, eine Schanze aufgestellt. Der Weg scheint uns verbaut. Von wegen! Gewohnheitsrecht, wir laufen hier seit sechs Jahren! So schnell könnte der „Wegelagerer“ gar nicht „Stopp!“ sagen, wie wir sein Hindernis übersteigen und respektlos umgehen.
17.21 Uhr. Wir haben inzwischen gefühlte 35 Kilometer durch das Emstal zurückgelegt: Die Brinkstraße rauf und runter, das Emsufer sowohl auf der linken, als auch der rechten Seite zwischen Sustrum und Steinbild erwandert und den Campingplatz inklusive des Seitenarms der alten Ems im Detail inspiziert. Und nun? Abwasch. Welch knappes Wort für so viel Geschirr. – Luna hat keine Zeit. Zu sehr ist sie mit Wald-, Feld- und Wühlmaus beschäftigt. Ganz zu schweigen von Graureiher, Höckerschwan und Graugans.

Sonntagmorgen im Emsland: Ich habe unzählige Heringe im Boden versenkt, Sturmbänder gespannt, Schüre und Leinen gesichert: Das Vorzelt wird überleben, d.h. es wird die kommenden drei Tage ohne uns bestehen und standhaft bleiben.
Nur eine kurze Unterbrechung und dann sind wir wieder zurück. Rechtzeitig zum Saisonende im Emstal.