Allgemeine Grundausbildung 1977 – Teil I

Der Wohnwagen steht im Winterquartier, es wird früh dunkel, ich habe Zeit zum Lesen und Gedanken-kreisen-lassen.

Heute fand ich auf einer Internetseite der Bundeswehr zwei Berichte ehemaliger Soldaten. Sie skizzieren darin ihre „Zeit beim Bund“. Zwei Offiziere im Dienstgrad Oberst. Inzwischen sind beide a.D., außer Dienst, pensioniert. Beigefügte Fotos zeigen sie u.a. im Kreise „der Generalität“, von Ministern oder beim Schachspiel mit russischen Stabsoffizieren. Ihr Truppenalltag? Vielleicht.

„Was man vergisst, hat man im Grunde nicht erlebt.“ (Ernst R. Hauschka) – Vor einigen Tagen stieß ich im WorldWideWeb beiläufig auf die Seite meiner Grundausbildungseinheit in Goslar. 1977. Im Stadtteil Jürgenohl am Jägerpfad fand ich den Fliegerhorst, der für die kommenden drei Monate mein vorübergehender „Lebensmittelpunkt“ wurde. Frisch aus der Schule, das Reifezeugnis noch druckfrisch daheim liegend, stand ich an einem Freitagnachmittag mit meiner braunen, prall gefüllten Karstadt-Kunstlederreisetasche vor dem Kompaniegebäude. Na, dann man los!

Ich hatte kaum die Eingangstür erreicht, da wurde ich auch schon vernehmbar in Empfang genommen. Ein Obergefreiter, ich lernte seinen Dienstgrad erst später kennen, machte mir unmissverständlich klar, wer hier augenblicklich das Regiment führt. Vor lauter Schreierei verstand ich keines seiner Worte. In einer Entfernung von 40 m vielleicht, aber nun stand ich ihm direkt gegenüber. Als er seine phonreiche Vorstellung beendet hatte, erfuhr ich durch behutsames Nachfragen, dass dies meine Einheit sei und was ich zu tun hätte.

Das Gebäude war in der linken oberen Ecke des Fliegerhorstes gelegen. Ich kannte weder Karte noch Kompass und deshalb lag die Kompanie erst einmal in der „linken Ecke“. Von unserem Zimmer, später erfuhr ich durch den hilfsbereiten Obergefreiten, dass dieses Zimmer ab sofort eine Stube sei, blickte ich in einen Wald. Ich ahnte nicht, dass ich durch diesen Forst bald dienstlich und regelmäßig zur Stiftskirche St. Georg laufen würde.

Ich bat den zuvorkommenden Stammsoldaten noch um einen zweiten Zimmerschlüssel, da wir unser neues Zimmer ja mit vier Rekruten teilen mussten. – Uih! – Gleich 2× hatte ich mich erdreistet „Zimmer“ statt „Stube“ zu sagen. „Stubenschlüssel! Stubenschlüssel!“ korrigierte ich und konnte den Herrn Obergefreiten gerade noch aus seiner bereits einsetzenden Schnappatmung holen und vor dem drohenden Atemstillstand bewahren. Er dankte es mir in keinster Weise. Und den zweiten Stubenschlüssel gab es natürlich auch nicht.

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Mein Wehrpaß, dann kam die EDV

Wir waren zwar noch nicht eingekleidet, hatten unsere Stuben kaum betreten, da „bat“ man uns vor das Gebäude zu treten. „Kompanie! Türen auf! – Vor dem Gebäude antreten! Marsch! Marsch!“ Schon begann man, uns auf den Dienst in den Streitkräften vorzubereiten. Na, das ging ja flott! Apropos „flott“. „Marsch! Marsch!“ bedeutet im Sprachjargon der Streitkräfte „ganz besonders flott!“ „Die Füße berühren propellerartig den Boden!“ Das wusste bis dato keiner von uns. Wir lernten es aber sehr schnell. Wie? Soviel sei verraten: es hatte auch etwas mit Lautstärke zu tun. Der bereits aus dem Physikunterricht bekannte Zusammenhang zwischen Lautstärke und Schalldruckpegel wurde uns während der kommenden Wochen am praktischen Beispiel noch einmal gründlich, nicht vor Augen, aber ans Trommelfell geführt.

„Thank God it’s Friday“. Der 1. Juli 1977 war ein Freitag. Das Wochenende stand vor der Tür. So auch in Goslar. Allerdings unterschied sich unsere Wochenendaktivität ein wenig vom Bundesdurchschnitt.

Im Sportanzug, mehr gab die Bekleidungskammer an diesem Freitag nicht her, traten wir an, ein und heraus. Wir bekamen unsere ersten Lektionen im Formaldienst und wenn wir nicht marschierten, dann rannten wir in das Gebäude hinein oder mussten es „Marsch! Marsch!“ verlassen. Auch das Kommando „Kompanie! Achtung! Nach hinten wegtreten! Marsch! Marsch!“ zählte bald zu unserem Formalausbildungsrepertoire.

1977 war ich durchtrainiert und urkundenüberhäufter Leichtathlet des SV Nordenhams. Ich hatte „kein Gramm Fett auf den Rippen“ und verlor dennoch in den 12 Wochen meiner Grundausbildung 7 Kg an Körpergewicht. Ich schreckte zusammen, wenn in der Rudi Carellschen Quizsendung „Am laufenden Band“ dieser Buzzer für eine falsche Antwort ertönte, denn in der 9. Kompanie war das das Signal für „Alarm!“

„Alarm!“ ging ja noch, aber „Verpackungsalarm!“, da „boxte der Papst im Kettenhemd und Stulpenstiefeln“, da „ging der Punk ab“. Naja, Mitte der 1970 lebte sich die Punkszene zwar bereits in New York und London aus, aber ob sie auch Goslar schon erreicht hatte, wage ich trotz der Präsenz der Diskothek „Ricardo“ oder des „No. 1“ in Oker stark zu bezweifeln.

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Und dann war Schluss mit den handschriftlichen Eintragungen

Den größten Fehler, den man im Alarmfall begehen konnte, war der, zu schnell zu sein. Warum? Weil man dann zusätzlich zur Hetze und dem künstlich erzeugten Stress auch noch den Ausbildern bei irgendwelchen überflüssigen vorbereitenden Arbeiten und Maßnahmen helfen musste. Diesen Fehler beging ich nur einmal. Und scheute mich nicht, meine Erkenntnisse dem Rekruten-Kameradenkreis mitzuteilen. Das ist in gewisser Weise unkameradschaftlich gewesen, Ausbilder und Stammpersonal zählen auch heute noch nach §12 Soldatengesetz (SG) zum Kameradenkreis.

Kameradschaft bedeutet in der soldatischen Gemeinschaft die Pflicht jedes Soldaten, seinem Kameraden unter allen Umständen – auch unter Lebensgefahr – beizustehen. Dumm war nur, dass diese Pflicht gern aus der Sicht von „oben nach unten“ gefordert wurde. Wir Rekruten standen damals mehr am unteren Ende der Nahrungskette.

Unser Chef Hauptmann (Hptm) R. wurde überwiegend durch seinen Stellvertreter Leutnant (Lt) W. vertreten. Lt W. bekam eines Tages einen Leutnant der Reserve (Lt d.R.) an die Hand befohlen. Dieser wehrübende Reservist, der bis vor kurzem noch als Reserveoffizieranwärter und als Mannschaftsdienstgrad seinen Dienst versah, lebte sich so richtig an uns aus. Nicht lange, dann bekam er vor Heiserkeit kein Wort mehr heraus. Angespornt durch das „unterirdische Verhalten“ des wehrübenden Cholerikers, sah der anfangs erwähnte Obergefreite (OGefr) seine Chance, uns in seiner Funktion als Hilfsausbilder, zu malträtieren. (S)Ein Irrtum.

Besonders tat sich ein Stabsunteroffizier (StUffz) W. hervor. Betraut mit der Waffenkammer (WaKa), liebte er es, uns „in numerischer Reihenfolge“ vor der WaKa antreten zu lassen. Numerisch, nach den laufenden Nummern unserer Waffenkarten „sortiert“, standen wir entlang der Wand im unteren Flur vor seinem Reich an. Und wehe es ging ihm nicht schnell genug. Dann hieß es „Auf die Stuben wegtreten! Marsch! Marsch!“ Und das Spiel begann von vorn.

Einmal in richtiger Reihenfolge angetreten merkten wir uns unseren Vordermann. Wir wussten auf welcher Stube dieser wohnt und wir hatten uns eingeprägt vor welchem Abschnitt der Wand im unteren Flur wir in „Ausgangsposition“ standen. Beim nächsten „Antreten vor der Waffenkammer“ liefen alle auf den Flur, laut auf der Stelle tretend sortierten und formierten wir die numerische Reihenfolge und stürmten los, um im unteren Flur auf die anderen Rekruten zu treffen, die bereits vorsortiert auf uns warteten. Das klappte wie am Schnürchen und ich denke, der 1. Waffen- und Geräteverwalter ist nie hinter unseren Trick gekommen. Dazu fehlte es ihm an … Zeit.

Das gleiche Spiel, spielte auch der Rechnungsführer (ReFü) mit uns. Und wir mit ihm. Nur mit dem feinen Unterschied, das wir nun in alphabetischer Reihenfolge antraten. Ließen wir keine Lücken zu den Bürotüren im Geschäftszimmertrakt, dann, ja dann hieß es: „Auf ein neues!“ Wurde während des Wartens in alphabetischer Reihenfolge gesprochen, so musste sich der Ertappte hinten anstellen. Trieb man dieses Spiel lange genug, war die befohlene ABC-Reihenfolge wieder aufgehoben und es hieß. „Ja, was wohl?“ – Nur waren wir Rekruten kasernenpflichtig und wohnten ohnehin in der Unterkunft. Der Rechnungsführer wollte aber irgendwann einmal nach Hause.

Ernennung zum Unteroffizier (Uffz). Der Obergefreite Unteroffizieranwärter (OGefr UA) Sch. wurde befördert und dieses Ereignis kräftig im Kreise der Ausbilder begossen. So stark begossen, dass sich der frisch gebackene Unteroffizier genötigt sah, seinen Mageninhalt einem Urinal anzuvertrauen. Warum auch nicht? Toilettenbecken wäre zu einfach gewesen. Tags darauf Revierreinigen. Der junge Uffz befiehlt tatsächlich „einem von uns“, sein „Erbe des vorangegangenen Abends“ zu entfernen. Er hatte diese Rechnung allerdings ohne den Zeugen gemacht, der ihn zuvor beobachtet hatte.

Uffz Sch. reinigte schließlich wenig willensstark, aber eigenständig. Und wir fanden, oh wundersame Fügung, plötzlich die Mülleimer unserer Stuben auf einigen Betten entleert vor. Das war weniger tragisch, denn diese Behältnisse haben in der Grundausbildung eigentlich ohnehin nur die Funktion geleert werden zu müssen. Sie waren somit (fast) klinisch rein.

Ich wagte es, meinen Kompaniefeldwebel mit der Anrede „Herr Hauptfeldwebel K.“ anzusprechen. In dem darauffolgenden Donnerwetter erfuhr ich, dass es „Herr Hauptfeldwebel“ oder „Hauptfeldwebel K.“ heißt. „Merken Sie sich das ein für allemal!“ – Herr Hauptfeldwebel K. monierte später während eines Stubendurchgangs das „playmate of the month“, das wir an die Innenseite der Tür zum Putzspind gepinnt hatten. „Kleben Sie gefälligst die unteren Extremitäten der Dame ab!“ Gesagt, getan. Beim nächsten Stubendurchgang fand Hauptfeldwebel K. die attraktive Dame mit einem Heftpflaster an den Füßen vor. Ich erspare mir weitere Ausführungen.

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Warum sie meine Auricher Fähig- und Fertigkeiten strichen, weiß nur …

Insbesondere durch Ausnutzung dienstlicher Machtbefugnisse getroffene Maßnahmen, durch die uns unnötig Schwierigkeiten bereitet wurden, standen bei drei, vier Ausbildern stets auf ihrer „to do list“. Ich habe noch alle Namen parat, aber die sollen „Geschichte“ sein und bleiben.

Freitagvormittag. Wir kommen vom Waldlauf zurück, treten vor dem Kompaniegebäude an und werden auf die Stuben befohlen. Zuvor hatte ein Ausbilder das Gebäude komplett mit 2-Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril, besser und geläufiger als „CS“ oder Tränengas bekannt, kontaminiert. Was sich daraufhin in dem Gebäude abspielte war schmerzhaft, qualvoll und niederträchtig, denn ahnungslos waren wir in die Falle gelaufen.

Es kam wie es kommen musste. Tage später, wir treten einmal wieder „Marsch! Marsch!“ vor dem Kompaniegebäude an, ist der diensthabende UvD (Unteroffizier vom Dienst) kein anderer als der Reizgas verabreichende Soldat vom Freitag der vergangenen Ausbildungswoche. Schicksal? Unglück? Karma? Beim Heraustreten aus dem UvD-Zimmer trifft ihn die Faust des vorbeieilenden Fliegers (Flg) T. so unglücklich, dass er „schlagartig“ zu Boden geht. Auch in diesem Fall erspare ich mir weitere Ausführungen zu den darauffolgenden strengen Maßnahmen, die am Ende jedoch im Sande verliefen. Sich quasi verflüchtigten. Wie Tränengas.

„Wenn Sie den StUffz W. wecken, dann treten Sie nach dem Anklopfen aus dem Türsturz und stellen sich seitlich hinter die Wand. Bei dem weiß man nie.“ Mit diesen Worten schickte ein Ausbilder den Gefreiten vom Dienst (GvD) zur Stube des Stammsoldaten. Monate später. Ich bin längst in meine Stammeinheit versetzt, bekomme ich ein Fernschreiben in die Hände. Als „Besonderes Vorkommnis“ bezeichnet man u.a. Straftaten, die durch Bundeswehrangehörige verübt werden. Zwei Stammsoldaten aus meiner Grundausbildungseinheit hatten eine Tankstelle überfallen. Einer der beiden: W.

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Ja, Grenzen habe ich hin und wieder überschritten. Besonders und gern, wenn es ungerecht und unsachlich wurde. Schließlich die Altersgrenze

So begann sie, meine Zeit beim Bund. Vielleicht bringe ich sie einmal zu Papier. – Nein, ich mache Spaß!